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  • AutorenbildJanina Vernal Schmidt

Linguizismus in der Spanischlehrer:innenausbildung und im schulischen Spanischunterricht

Aktualisiert: 22. März 2022

Ich möchte zunächst ein Schlüsselereignis aus einem universitären Sprachpraxisseminar Spanisch vorstellen. Dieses Beispiel ist zwar nicht Teil eines systematisch erhobenen Datenkorpus, dennoch ist es Teil des öffentlichen, akademischen Geschehens an einer deutschen Universität. Es ist insofern auch nicht beliebig, da der Grund, weshalb es zu diesem Ereignis kommt, bestimmten (impliziten) sprachlichen Regelungen in den Sprachpraxisseminaren folgt und somit ein systematisches Moment enthält (vgl. ähnlich Dirim 2017: 8).

So wurde mir von mehreren Lehramtsstudierenden in einem Seminar zu ‚Mehrsprachigkeit im Spanischunterricht‘ folgendes Ereignis berichtet:


 

In einem universitären Grammatikkurs fragt der Dozent, ein gebürtiger madrileño, die Kursteilnehmer:innen, wie man ‚Nebel‘ auf Spanisch sagt. Eine aus Lateinamerika stammende Studierende antwortet mit dem Begriff ‚neblina‘. Daraufhin erwidert der Dozent, offensichtlich unzufrieden mit der Antwort: „Así habláis vosotros“. Erneut stellt er die Frage ins Plenum und fügt hinzu: „Wie sagt man Nebel auf Spanisch aus Spanien?“


 

Ich lese diese Feedbacksequenz aus einer linguizismuskritischen Perspektive folgendermaßen: Die Studierende erlebt hier, dass sie sich zu einer sprachlichen Frage richtig geäußert hat, aber aufgrund ihrer Sprachverwendung, ausgegrenzt wird. Der Dozent erwartet und erkennt in dem Seminarraum einzig die zentraliberische Norm als die korrekte sprachliche Norm an – er gestaltet den Seminarraums also als einen strikt monolingualen Erwartungsraum. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass das Spanische eine plurizentrische Sprache ist, für die zahlreiche Standardvarietäten geltend gemacht werden können. Andere (hier: lateinamerikanische) Varietäten werden von ihm jedoch als von der Norm abweichend markiert und somit als unangemessen und defizitär delegitimiert. Ein solch defizitorientiertes Sprechen über andere Varietäten birgt ein hohes Verletzungs- und Diskriminierungspotential, das Betroffene belasten, eingrenzen und in Bezug auf ihr kommunikatives Repertoire nachhaltig hemmen kann (vgl. Trautner 2020: 184ff.).

In der Situation kommt also das für pädagogische Bildungssettings charakteristische asymmetrische Machtverhältnis zum Tragen: Wird der Anfrage der Assimilation an eine bestimmte Varietät nicht entsprochen, droht den Studierenden nicht nur die Sanktionierung durch eine schlechte Note, sondern auch eine soziale Sanktionierung, wenn sie der Gruppe der Spanischsprechenden entrissen werden. Somit wohnt dem Feedback des Dozierenden eine problematische Reproduktion von Ungleichheit inne, da es Diskriminierungen und Marginalsierungen auf Seiten der hierarchisch niedriger positionierten Studierenden verursacht. Hier wird die Frage virulent, wie Dozierende bzw. Lehrpersonen als eher privilegierte und hierarchisch höher positionierte Personen sprechen können und sollen.

Postkolonial gewendet ist interessant, dass das Feedback des Dozenten durch die Gegenüberstellung einer ‚Wir-Gruppe‘ (= Spanier:innen) und einer Gruppe der ‚Anderen ‘ (= Lateinamerikaner:innen) die Figur der Subalternen reproduziert, die an die koloniale Machtverhältnis zwischen sog. Eroberern und den Kolonialisierten anknüpft. Die kolonialisierten Subalternen erhalten somit wiederholt keine Stimme, sie werden aus dem Diskurs ausgeschlossen und er wird ihnen Handlungsmacht abgesprochen.

Darüber hinaus spiegelt sich in dem Aufrufen des Landes Spanien im Vergleich zum (mitgemeinten) Kontinent Lateinamerika („vosotros“) die Tendenz zur Reduktion der gesellschaftlichen, politischen, historischen sowie sprachlichen Mannigfaltigkeit des lateinamerikanischen Kontinents. Dadurch wird zugleich die Vergleichsfolie Spanien auf der Komplexitätsskala aufgewertet und als höherwertig dargestellt.

Somit werden in dieser Situation eurozentrische und an kolonialhistorische Wissensbestände anschließende Normalitätserwartungen erkennbar. Die wenig wertschätzende Einstellung der Mehrstimmigkeit des Spanischen, die im Akt der Zurückweisung anklingt, zeigt zugleich jenen Studierenden, die aufgrund der Verwendung der zentraliberischen Varietät gehört werden, „dass sie es sind, die die öffentliche Sprache auf die legitime Weise sprechen und zur Gruppe derjenigen gehören, denen es zusteht, im öffentlichen Raum zu sprechen, damit ihre Meinung äußern zu können und hörbar sprechen zu können“ (Dirim 2017: 14f.).

Der Umgang des Spanischdozenten mit der Situation kann positionsbildend auf zukünftige Lehrpersonen wirken: So kann seine Praxis als angemessen angenommen und für die künftige eigene Lehrpraxis übernommen werden - nicht zuletzt, weil sie an den monolingualen Habitus, der an deutschen Schulen vorherrscht, sehr gut anschließbar ist. Oder aber seine Postion wird zurückgewiesen und die Studierenden suchen nach alternativen weniger diskriminierenden und verletzenden (Sprach-)Handlungsoptionen.[1]


Das zweite Beispiel nimmt auf Ergebnisse aus den empirischen Daten meiner Dissertationsstudie Bezug (vgl. Vernal Schmidt 2021). Mit dem Ziel der Rekonstruktion des Sprechens über Kultur und die Verhandlung von fachlichen Gegenständen in einem kulturdidaktischen Lernsetting in der Sekundarstufe II zu Spielfilmsequenzen, habe ich unterrichtliche Interaktionen in einem Spanisch-Leistungskurs zu aufgabeninduzierter filmischer Anschlusskommunikation analysiert. Auch in dem Spanischunterricht konnte erstens die Setzung des zentraliberischen Spanisch als Norm und zweitens das schulisch-institutionelle Register der zentraliberisch-spanischen Bildungssprache rekonstruiert werden. Zugleich lassen sich in dem Leistungskurs Spanisch ebenfalls indirekte inferiorisierende Differenzsetzungen, die vornehmlich auf lateinamerikanische Varietäten, aber auch auf umgangssprachliche Ausdrücke des zentraliberischen Spanisch Anwendung finden, herausarbeiten.

In beiden Beispielen zeigt sich also ein essentialistisches Verständnis linguistischer Varietäten, das an Nationen gebunden, von Homogenität geprägt und mit der Abwertung nicht-hegenomialer Sprachpraxen gekoppelt ist. Sprache wird somit zum Differenzmittel, indem sie der Über- und Unterordnung dient und die Handlungsspielräume der jeweiligen Sprecher:innen ermöglicht oder einschränkt.

Diese Umgangsweisen mit Sprachen und Varietäten lassen sich mit dem Analyseinstrument Linguizismus analysieren und beschreiben (vgl. Dirim 2017).


„Linguizismuskritik ist eine spezielle Richtung der Rassismuskritik, deren Ziel es ist, aufzudecken, inwiefern in der postkolonialen Zeit in kolonialer Denktradition unter Bezugnahme auf Unterschiede zwischen Sprachen, Dialekten, Soziolekten, Akzenten und anderen sprachlichen Merkmalen Menschen kategorisiert, voneinander hierarchisierend unterschieden, inferiorisiert und an der Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen gehindert werden." (ebd.: 15)

Und auch „auch gut gemeinte Umgangsweisen mit Sprache(n) [können, JMVS] (neo-)linguizistische Ausgrenzungen erzeugen, da (sprach-)pädagogische Konzepte in einem Raum entwickelt werden, in dem koloniale Denktraditionen nicht überwunden, sondern […] weiterhin in verschiedenen Varianten wirksam sind“ (ebd.). Dies kann virulent werden, wenn im Fremdsprachenunterricht über wahrscheinlich gut gemeinte Expertisierungen von mehrsprachigen Schüler:innen versucht wird, auf deren vermeintliche Zweitsprachen zurückzugreifen, während die Betroffenen jedoch ihre weiteren Sprachkompetenzen vielleicht aufgrund von früheren Abwertungserfahrungen oder anderen Gründen lieber nicht in den schulöffentlichen Raum hineintragen möchten. Oder wenn ihnen von der Lehrperson zwar eine gewisse Sprachkompetenz aufgrund ihres Phänotyps oder ihrer nichtdeutsch klingenden Namen zugeschrieben wird, sie über diese jedoch natürlich gar nicht verfügen müssen.

Insofern sehe ich die Auseinandersetzung mit Linguizismus im Rahmen der Infragestellung des eigenen Sprechens und der Reflexion möglicherweise verinnerlichter Abwertungen bestimmter Varietäten oder ‚Akzente‘ für (zukünftige) Lehrpersonen und Hochschuldozierende sowie die Reflexion über und die Erarbeitung und Bereitstellung alternative(r) Sprechweisen von hoher Bedeutsamkeit.

[1] Auch bei Unterrichtsversuchen im Rahmen von Schulpraktika im Spanischunterricht wurden den Berichten derselben Studierendengruppe nach andere Standardvarietäten als das zentraliberische Spanisch explizit als falsches Spanisch oder als im schulischen Kontext unerwünscht abgewertet und die Sprecher*innen dieser Varietäten (vorerst) zum Schweigen gebracht. Dies hat Verletzungen bei den Betroffen und Empörung bei einigen anderen Studierenden hervorgerufen. Erst in dem Seminar zur Mehrsprachigkeit im Spanischunterricht konnten diese Situationen nachträglich über das Instrument der Linguizismuskritik problematisiert und bearbeitet werden.


Literatur

  • Dirim, Inci (2017): „Linguizismus und linguizismuskritische pädagogische Professionalität.“ In: Slowakische Zeitschrift für Germanistik 9, 1, S. 7-17. Online: https://wp.sung.sk/wp-content/uploads/2020/07/SZfG_2017_1_7.pdf, 21.04.2021.

  • Trautner, Claudia (2020): „Wie soll ich jetzt überhaupt noch sprechen? Die Begleitung sprachlicher Suchbewegungen von Student_innen als Aufgabe von Hochschullehre.“ In: Bücken, Susanne; Streicher, Noelia; Velho, Astride; Mecheril, Paul (Hrsg.): Migrationsgesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse in Bildungssettings. Analysen, Refexionen, Kritik. Wiesbaden: Springer VS, S. 183-196.

  • Vernal Schmidt, Janina M. (2021): Kultur im Spanischunterricht. Neue Perspektiven für die fremdsprachliche Kulturdidaktik mit Filmen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

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